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Das Stadtbild weiterbauen

17. Juli 2008

Seit dem spektakulären Wiederaufbau der Dresdner Frauenkirche artikuliert sich in vielen Städten Deutschlands der Wunsch nach Rekonstruktion zerstörter Gebäude und ganzer Stadtlandschaften.

Dabei bildete Braunschweig mit dem als Einkaufszentrum wiedererrichteten Welfenschloss nur den Anfang: Potsdam, Berlin, Hannover – um nur die populärsten Beispiele zu nennen – wollen folgen und mit Repliken historischer Gebäude scheinbar wieder Ordnung und Geborgenheit, Kontinuität und Vertrautheit in eine technisierte Welt bringen. Architektur wird dabei zum Anwalt eines vermeintlichen gesellschaftlichen Rekonstruktionsbedürfnisses. War die Moderne von dem Glauben an die Heilkraft der Utopie geprägt, scheint nunmehr Nostalgie allein Zukunftsglück zu verheißen.

Museum_033
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Kunsthalle im Lipsiusbau an der Brühlschen Terrasse, Dresden Architekten: Auer + Weber + Assoziierte, Architekten BDA, Stuttgart Foto: Till Budde

Vorgeschobenes Geschichtsbewusstsein

Doch bei genauerem Hinsehen offenbart sich ein oft nur vorgeschobenes Geschichtsbewusstsein: Denn bei den vielfältigen Wiederaufbauplänen steht nicht das Wahre und Authentische des Originals im Vordergrund. Vielmehr geht es um das Inszenieren von Ereignisräumen für Shopping-Malls, Entertain- und Tagungszentren, die Geschichte auf ein Marketinginstrument zu reduzieren. Gleichzeitig werden einzigartige Stadtensembles, wertvolle historische Bausubstanz, aber auch Bauten der Nachkriegsmoderne dem Verfall preisgegeben oder abgerissen. Die Suche nach historischer Identität in architektonischen Repliken bei gleichzeitiger Vernachlässigung des vorhandenen baukulturellen Erbes ist ein elementarer Widerspruch im Verständnis von kultureller Kontinuität.

Museum_041
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Foto: Till Budde

Kritischer Umgang mit der Moderne

Die kontrovers wie leidenschaftlich geführte Debatte um das Für und Wider von Rekonstruktionen weist auf die Pervertierung der Ideen der Moderne hin: Renditeüberlegungen, die Individualisierung unserer Gesellschaft, die stetig wachsende Bedeutung der Mobilität haben zu einer Überbauung unserer Städte geführt, die oft weit entfernt von der Vorstellung vitaler und attraktiver Stadträume ist und deren Einmaligkeit vielfach in ihrer Belanglosigkeit liegt. Das wirtschaftlich Richtige, das technisch Korrekte reichen eben nicht aus, um Menschen für ihre gebaute Umwelt zu begeistern. So ist auch zu verstehen, dass sie verstärkt in der Vergangenheit das suchen, was die Gegenwart nicht bietet.

Und ganz nebenbei wird mit dem Diskurs um Rekonstruktion und Historismus der Leitgedanke des modernen Bauens in Frage gestellt: Die Überzeugung, dass der architektonischen Form historische Authentizität zukomme und dass jede Zeit die ihr angemessene Formensprache zu entwickeln habe, wird belanglos. Unlängst hat der Architekturhistoriker Winfried Nerdinger (in: aviso, 1/2008) der Architektenschaft – „bis auf wenige Ausnahmen“ – unterstellt, dass sie von der „Vorstellung einer geradezu moralischen Pflicht zur zeitgemäßen Selbstdarstellung, zur angeblichen »Ehrlichkeit« beim Bauen befangen“ sei.

Dieser Vorwurf rekurriert auf die zentrale architektonische Frage des 20. Jahrhunderts: Diese bestand in der Suche nach einer Ausdrucksform, deren Fundament schon für Semper in einer gesellschaftlichen Aufgabenstellung zu suchen war. Während Semper sie in seiner Zeit nicht fand, war es die Leistung der Moderne, diese gesellschaftliche Funktion des Bauens erneut gesucht und gefunden zu haben. Ihr Leitgedanke, dass der architektonischen Form historische Authentizität zukomme und dass jede Zeit die ihr angemessene Formensprache zu entwickeln habe, besteht auch nach aller berechtigter Kritik an dem Konzept der Moderne fort.

Eine kritische Fortschreibung der Moderne kann mittels des Moments der Permanenz und der Tradition erfolgen. Tradition wird dabei nicht als sentimentaler Rückblick auf glorreiche Zeiten oder als Stildiktat verstanden, sondern als ein wesentlicher, aber nicht alleiniger Bestandteil der konzeptionellen Entwurfshaltung. Architektonische Entwicklung bedeutet vor diesem Hintergrund eine individuelle Interpretation der (gesellschaftlichen) Aufgabenstellung und deren Umsetzung auf der Basis unveränderlicher Konstanzen der Architektur, wie dem Prinzip der Ordnung, Klarheit und Reduktion.

Ausgehend von der Stadtplanung ist Geschichtsbezogenheit als das Fortführen der Tradition des Ortes zu verstehen: Eingebunden in den Grundriss der Stadt, ist moderne Architektur pluralistisch und innovativ. In diesem Sinne findet moderne Architektur die Balance zwischen autonomer Entwurfshaltung und ihrer Eingebundenheit in den städtebaulichen Kontext. Für das Bauen im bestehenden Kontext gilt danach eine Strategie des Weiterbauens, die auf Kontinuität und Integrität mit dem Bestehenden setzt und aus einer präzisen Analyse des Ortes dessen architektonisches Weiterbauen entwickelt. Bauen im Vorhandenen ist somit weder folkloristischer Historismus noch Avantgarde, sondern das behutsame und respektvolle Weiterdenken des Bestehenden in einem zeitgenössischen Verständnis. Das Faszinierende einer Stadt ist ihr gewachsenes architektonisches Bild, das authentisch und lebendig Geschichte erfahren lässt.

Rekonstruktion selektiver Geschichtsbilder

Jedoch ist der Geschichtsbezug in der Architektur nicht als ein ästhetisches Argument für die Rekonstruktionen selektiver Geschichtsbilder zu verstehen. Der BDA spricht sich gegen die Totalrekonstruktion von unwiederbringlich zerstörten Gebäuden aus. Die Identität stiftende Wirkung von Städten manifestiert sich in einer ablesbaren Geschichte der Stadt. Der BDA steht für eine Architektur, welche die Historie des Ortes weder verfälscht noch ganze Epochen aus dem Geschichtsbild verbannt. Die unkritische Rekonstruktion zerstörter Gebäude entzieht der Geschichte ein eigenständiges Zeugnis in der Gegenwart unserer Stadtkultur.

Dies schließt eine Rekonstruktion beschädigter oder zerstörter Bauwerke mit hoher kulturhistorischer und gesellschaftlicher Bedeutung nicht aus. Wohl kaum ein Architekt hat die Wiedererrichtung der brandzerstörten Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar in Frage gestellt. Von gleichem symbolischem Wert für die kulturelle Identität waren der 1902 unmittelbar nach dem Zusammensturz wieder aufgebaute Campanile in Venedig oder die Wiedererrichtung der Brücke von Mostar.

Ob sich das Argument der hohen kulturhistorischen Bedeutung auch auf die Wiedererrichtung das Berliner Stadtschlosses übertragen lässt, ist in den letzten Jahren kontrovers debattiert worden. In dieser Diskussion ist auch zu berücksichtigen, dass das Berliner Stadtschloss als künftiges Humboldt-Forum ein Schauhaus der Weltkunst, ein kultureller Ort für ein internationales Publikum werden soll. Jedoch war das Hohenzollernschloss nie Bürgerforum, nie moderne Bibliothek und nie ein stark frequentiertes Museum. Diese Funktionen müssen in die Neo-Barockhülle integriert werden. Damit stellt sich die Frage, wie aufgrund der engen Wettbewerbsvorgaben jene architektonische Qualität erreicht werden kann, die diesem besonderen Ort und der vorgesehenen anspruchsvollen Nutzung gerecht wird. Deutlich wird damit, dass ein Gebäude aus dem 21. Jahrhundert nicht ausschließlich durch eine wiedererrichtete Fassade geprägt sein kann. Vielmehr muss das Raumprogramm des Humboldt-Forums mit Bibliotheken, Museum und Foren aus einem authentischen Entwurf, der Fassaden und Innenräume verbindet, entstehen.

Umgang mit dem Verlust

Wie sich die Berliner Republik nach bald 18jähriger Debatte in ihrer Mitte architektonisch darstellen wird – als weltoffene Demokratie oder wie Andreas Kilb in der FAZ schreibt, mit dem „Selbstbewusstsein, … sich zu den vordemokratischen Wurzeln des Staates zu bekennen“ – wird auch von dem Fachurteil der Jury abhängen. Denn nicht die Fassaden können das alleinige Auswahlkriterium sein, sondern ob der Entwurf für den historischen Ort ein Wissensmuseum im Geiste Humboldts mit einer erstklassigen Architektur erreicht. Und sollte nach Ansicht der Jury die Symbiose aus barockem Prunk und modernen Nutzeranforderungen diesem Anspruch nicht genügen, dürfte vom Parlament als Souverän eine neue Debatte über sinnvolle Gestaltungsvorgaben erwartet werden.

Berlin zeigt aber auch, wie historisches Welterbe mit einer modernen Architektur weiterentwickelt werden kann. Zunächst lösten die beiden Projekte auf der Museumsinsel – die James-Simon-Galerie und die Sanierung des Neuen Museums von David Chipperfield – einen Streit aus, der mit viel Sachverstand, leider aber auch mit ebenso viel Polemik geführt wurde. Der Grund für diese Debatte ist nicht neu: Seit jeher ist die Denkmalpflege mit der Frage konfrontiert: Was bleibt erhalten, was wird rekonstruiert, in welchem Geist wird erneuert? Mit dem Entwurf für das zentrale Eingangsgebäude der Museumsinsel schreibt David Chipperfield die Idee der Museumsinsel als Freistätte der Kunst und Wissenschaft angemessen fort. Der brillante Entwurf mit der wunderbar terrassierten Freitreppe antwortet auf die herausfordernde Logistik zur Bewältigung der Besucherströme souverän mit funktionaler Eleganz. David Chipperfields Versprechen ist ein Weg zwischen Tradition und Innovation, zwischen Respekt und Selbstbewusstsein, und er setzt in diesem Sinne das Architekturverständnis der Museumsinsel fort: Großartige Gebäude haben die Museumsinsel baulich fortgeschrieben, in deren Architektur das jeweilige Zeitverständnis mitschwang. Die Museen wurden dabei zur Geschichte, bauten aber niemals Geschichte nach.

Das Verlangen nach dem makellos Geheilten wird David Chipperfield im Neuen Museum nicht erfüllen. Denn es ist richtig, dass er den historischen Bestand höher schätzt als die Fiktion des Historischen. Einem Archäologen gleich nimmt David Chipperfield sorgfältig das Bestehende auf, um dessen Substanz zu erhalten und, wenn notwendig, in zeitgenössischen Formen zu ergänzen. Das Sanierungskonzept wird der Tatsache Rechnung tragen, dass das Gebäude mehr als 60 Jahre eine Ruine gewesen ist. Daher wird es zwischen Neu und Alt, je nach Befund, fließende Übergänge ebenso wie deutliche Kontraste geben.

Der Blick nach Dresden verdeutlicht am besten die fragwürdige Dialektik des Umgangs mit dem historischen Bestand. Auf der einen Seite werden am Neumarkt neobarocke Schaufassaden auf herkömmliche Betonrohbauten aufgetragen, auf der anderen Seite wurde das Centrum-Warenhaus an der Prager Straße, eine der Inkunabeln des Neuen Bauens nach 1945, abgerissen. Einen differenzierten Ansatz für das Weiterbauen des gewachsenen Stadtbildes haben die Architekten Auer + Weber + Assoziierte und Rolf Zimmermann gewählt. Die Kunsthalle im Lipsiusbau an der Brühlschen Terrasse wurde in Folge der Bombardierungen der Dresdner Innenstadt beträchtlich beschädigt und nach dem Krieg notdürftig wieder in Stand gesetzt. Doch anstatt den Bau in alter Pracht neu entstehen zu lassen, haben die Architekten alle Spuren der Geschichte sichtbar gelassen: Mit minimalen Eingriffen wurde der Ausstellungsbau den Ansprüchen unserer Zeit angepasst. Alle Eingriffe sind deutlich als getätigte Interventionen abzulesen: der neue Putz, die neue Empore des Ausstellungssaals, die neuen Treppenläufe und die neuen Einbauten. Die alte Substanz ist ebenso als solche erkennbar. Die Zerstörungen wirken als Mahnung und unterstreichen die subtilen Eingriffe der Architekten.

Die Sanierung der Kunsthalle im Lipsiusbau zeigt exemplarisch, wie der Weiterbau der Stadt als Geschichtsbuch und gleichzeitig zum funktionalen Element eines heutigen Stadtraums wird. Dies schafft eine Architektur, die sich vornehm in den Dienst des Vorhandenen stellt und zugleich unsere heutige Zeit mit ihren Ideen und Vorstellungen integriert, ohne dabei die vielschichtigen Facetten der Geschichte auszublenden.

Michael Frielinghaus, Präsident Bund Deutscher Architekten BDA
Dr. Olaf Bahner, Referent Presse- und Öffentlichkeitsarbeit