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Freiraum zum Denken! Architektur studieren in Zeiten von Bologna

30. Mai 2010

Vor über zehn Jahren starteten Bildungspolitiker optimistisch eine Reform, an deren Ende ein einheitliches europäisches Hochschulsystem stehen sollte. Die Bologna-Ziele – erleichterte Studienwechsel und die Anerkennung von Studienleistungen in den unterschiedlichen Ländern – sind einleuchtend. Jedoch waren sie politisch gedacht, losgelöst von den hierfür notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen, um die Hochschule für ihre neuen Freiheiten auszustatten. Entsprechend differenziert und stellenweise auch enttäuscht war der Blick der Reformierten auf das Erreichte im Jahr 10 des Bologna-Prozesses.

Die sich damit stellende Frage nach dem weiteren Reformweg darf jetzt nicht zu einem politischen Aktionismus führen, der lediglich vordergründige Defizite behebt und die „Studierbarkeit“ von Bachelor- und Master-Studiengängen verbessert. Vielmehr muss die Reform ihre wirkliche reformistische Kraft erst noch voll entfalten. Drei Punkte erscheinen dabei essentiell für das Weiterdenken des Bologna-Konzeptes, die beispielhaft für das Architekturstudium erläutert werden.

Architekten müssen mehr denn je durch Lehre und Studium befähigt werden, ihren Beruf auf hohem Niveau auszuüben. Gute Architektur kann begeistern, kann Emotionen wecken, kann das Lernen befördern, kann Antworten auf soziale und ökologische Probleme geben. Das Studium der Architektur muss deshalb als interdisziplinares Lehrgebiet Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften mit Fächern der Technik und der Kunst vereinen. Die Ausbildung sollte daher auf ein generalistisches, alle relevanten Disziplinen umfassendes Wissen abzielen, um den Architekten zum interdisziplinären Arbeiten an komplexen Aufgaben zu befähigen.

Zwar ist das Studium der Architektur in Deutschland derzeit überwiegend in einen inhaltlich breit angelegten Bachelor-Studiengang und einen wissenschaftlich oder künstlerisch spezialisierenden Master-Studiengang unterteilt und entspricht damit weitestgehend diesem Ausbildungsverständnis. Dennoch sind deutliche Verbesserungen hinsichtlich der Freiräume für das Studieren und der ungehinderten Entfaltung wissenschaftlicher Begabungen zu erreichen. Denn wird das generalistische Ausbildungskonzept für den Aufbau eines Studiums ernst genommen, dann muss das Studium im Bologna-Verständnis mehr als eine effizient ausgestaltete Jagd nach Credit-Points sein: Es muss den Studierenden und den Forschern neuartige Bildungsfreiräume eröffnen. Studieren in Extremgeschwindigkeit überfordert Studenten psychisch, verschult und verengt das Studium zu Lasten einer fächerübergreifenden Ausbildung und lässt den Studierenden weder Zeit noch Muse zum freien Denken. Ein entschleunigtes Studium und die damit einhergehende Anpassung der Lehrinhalte und der Studienkonzepte sind dringend erforderlich.

In diesem Sinn darf kein Widerspruch zwischen dem Humboldt’schen Studienkonzept und der Bologna-Reform konstruiert werden: Humboldts Bildungsideal steht für eine ganzheitliche Ausbildung des Charakters und die Förderung der Individualität, die durch die allgemeine Bildung erreicht werden kann – und das hat auch heute noch seine volle Berechtigung.

Um dies zu erreichen, ist ein zweiter Punkt für den weiteren Reformprozess entscheidend – die umfänglich praktizierte und finanzierte Autonomie der Hochschulen: Nach Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes wurden die Hochschulen zwar aus der staatlichen Detailsteuerung entlassen und ihnen deutlich mehr Autonomie eingeräumt, jedoch konnten sie diese aufgrund finanzieller und personeller Engpässe gar nicht ausfüllen. Und dies mit negativen Folgen für die neuen Studiengänge: Statt die Studieninhalte entsprechend der neuen Studienstruktur inhaltlich zu reformieren und dabei das Humboldt’sche Ideal eines generalistischen Studiums weiterzutragen, wurden die Lehrinhalte in einem aufwändigen Verwaltungsakt in das zeitliche Bachelor-Master-Raster gepresst. Der Weg zu einer verbesserten Lehre führt aber auch über die verbesserte Mittelausstattung der Hochschulen. Eine so weitreichende Reform, wie sie die Bologna-Beschlüsse formulieren, kann nicht von der Politik verordnet werden und ihre Umsetzung anschließend allein auf dem Rücken der Hochschulen und ihres Lehr- und Verwaltungspersonal abgeladen werden.

Ein letzter Punkt geht damit einher – der einer strukturellen Reform: Deutschland verfügt im europäischen Vergleich über eine der höchsten Hochschuldichten. Allein das Fach Architektur wird in Deutschland an 62 Hochschulen gelehrt. Die Diskrepanz zwischen jährlich rund 6.000 Absolventen der Architekturfakultäten und einem altersbedingten Ausscheiden von jährlich 2.500 bis 3.000 Architekten und Stadtplanern zeigt die Gründe für die strukturelle Bedingtheit der derzeit hohen Arbeitslosenquote angestellter Architekten an. Der Ausweg, als freischaffender Architekt oder in branchenähnlichen Arbeitsfeldern tätig zu werden, bietet nur für eine relativ geringe Anzahl von Absolventen hinreichende Erfolgschancen. Eine dem Studienbeginn vorausgehende Aufnahmeprüfung ist daher auch in Verantwortung gegenüber dem einzelnen Abiturienten und seinem zukünftigen Werdegang unabdingbar.

Im Sinne einer Reform darf weitergedacht und nach der Reduzierung der Ausbildungskapazität gefragt werden. Ist es nicht sinnvoller, weniger Hochschulen finanziell und personell für eine exzellente Ausbildung zu unterstützen, als weiterhin eine Vielzahl von Hochschulen als Ausdruck einer regionalen Gießkannen-Strukturpolitik zu erhalten?

Reformen erfordern Ausdauer, aber auch Mut, um tiefgreifend Entscheidungen zugunsten des Neuen zu treffen. Dies zu tun, obliegt nicht nur den Hochschulen; hier ist gerade die Politik gefordert, um die Rahmenbedingungen der Reform nachzujustieren – im Sinne der Studierenden, die dem europäischen Hochschulraum eine menschliche Gestalt verleihen.

Olaf Bahner, Andreas Emminger
Erschienen in „Politik und Kultur“ 3.2010