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Flucht nach vorne – Ein Blick zurück

17. März 2016

Flucht nach vorne – Gebaute Lösungen zur Integration von Geflüchteten in unsere Gemeinschaft
Eine Werkstatt des BDA Bayern und der Bundesstiftung Baukultur am 10./11. März in München

Flucht nach vorne – Ein Blick zurück

Unser Symposium Flucht nach vorne, in vielen vorbereitenden Monaten vom BDA Bayern und der Bundesstiftung Baukultur in Zusammenarbeit mit Kuratorin Julia Hinderink als Werkstatt konzipiert, konnte einen positiven Beitrag leisten zur sonst eher defensiv geführten Diskussion über Flucht und Immigration. Mehr als 200 am Thema Interessierte trafen sich im Münchner Kreativquartier mucca und im Museum Fünf Kontinente zu interdisziplinären Fachvorträgen, Podiumsdiskussionen, Best-Practice-Lösungen und konkreter Ideenschmiede, zu Information, Gedankenaustausch und Mitarbeit. Vor allem an den sechs moderierten Thementischen der Werkstatt wurde intensiv nachgedacht und rege diskutiert. Die Fragestellungen reichten von Verantwortung und Willkommenskultur über Experimente, Leuchtturmprojekte und Modelle bis hin zu Chancen für das Land. Die Zeit reichte allerdings längst nicht aus, um das hochkomplexe Thema zu fassen. Dennoch beweisen die in der Werkstatt erarbeiteten Ideen und Vorschläge: Setzen sich kluge Köpfe der verschiedensten Disziplinen zusammen, entstehen daraus innerhalb kürzester Zeit erste umsetzbare Konzepte.

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Flucht nach vorne – 10./11. März, München

Was haben uns die Vorträge und Praxisbeispiele gezeigt? Welche Vorschläge und Erkenntnisse lieferten die Werkstatttische?

Komplexität erfordert interdisziplinäre Teams

Zunächst einmal, dass es von Anfang an interdisziplinäre Expertenteams braucht, um sich den komplexen Aufgaben zu stellen, die das Schaffen eines Zuhauses für die neu zu uns kommenden Menschen mit sich bringt. Dazu gehören neben Architekten und Stadtplanern, Landschafts- und Innenarchitekten vor allem Vertreter der Kommunen, Wohnungsgenossenschaften und der Bauindustrie, Investoren, Unternehmer und Politiker, aber gerade auch Ethnologen, Psychologen, Soziologen, Islamwissenschaftler, Orientalisten, Geistliche der verschiedenen Religionen und nicht zuletzt Vertreter der Betroffenen selbst. Und es sind kontinuierliche Information und transparente Entscheidungsprozesse gefragt. Dabei ist der offene und konstruktive Dialog mit den Bürgern, vor allem aus der unmittelbaren Nachbarschaft, besonders wichtig, um den sozialen Frieden in der Gesellschaft zu erhalten. Um das Spannungsfeld von Distanz und dauerhafter Nähe zu entschärfen, die neue Nachbarn und neue Wohnformen mit sich bringen; um sie nicht zu einer Zumutung, sondern zu urbaner Lebensqualität werden zu lassen.

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Qualität verlangt Planung mit kühlem Kopf

Des Weiteren bestand Einigkeit darüber, dass hochwertige, atmosphärische Architektur mit dem Potential, neue Handlungsräume zu eröffnen, auch schwierigen Projekten oder kontrovers diskutierten Bauvorhaben eine höhere Akzeptanz verschafft. Dass deshalb die Qualitätsfrage, die immer im Wettkampf mit der Quantitätsfrage steht, viel früher gestellt werden muss. Dass der vermeintliche Zwang, innerhalb kürzester Zeit und mit begrenzten Mitteln enorme Quantitäten zu schaffen, weder die unbedingt notwendige, ortsangepasste und städtebauliche Weiterentwicklung noch die sozialen und kulturellen Errungenschaften unseres Landes torpedieren darf. Und schließlich, dass es in der gegenwärtigen Hektik mehr denn je geboten ist, einen kühlen Kopf zu bewahren, um Schnellschüsse und Fehler zu vermeiden. Denn die heute errichteten Häuser werden mindestens 80 Jahre lang stehen bleiben! Wir sollten die Baukultur der Stadt, des Landes, der Republik weiterbauen, weitertragen, weitergeben, um Lebensräume für alle zu schaffen. Und wir sollten Neues als Bereicherung integrieren. Wir brauchen eine anspruchsvolle, nicht diskriminierende Architektur, die Hoffnung und Lebensmut signalisiert. Die im Prozess mit allen Akteuren gestaltet wird. Und die – vielleicht gerade deshalb – mit angemessenen Mitteln realisierbar ist. Was wir vermeiden sollten, ist das dauerhafte Provisorium. Denn mit diesem Provisorium müssten wir alle auf Jahre leben: die Bewohner, die Nachbarn, aber auch alle Bürgerinnen und Bürger einer Stadt oder Gemeinde, weil die negative Ausstrahlung groß sein kann und soziale wie volkswirtschaftliche Folgen zu tragen sind. Auch monofunktionale Wohnheime mit einseitiger sozialer Struktur sind keine geeignete Lösung. Sie tragen ein Stigma, verhindern Inklusion, verursachen Mehrkosten (für Betrieb, Wachschutz etc.) und müssen zur nachfolgenden Nutzung umgebaut werden.

Die Würde des Menschen ist Grundgesetz – auch beim Wohnen

Architektur ist Teil eines Aufklärungsprozesses. Sie kann und soll durch ihre Qualität dazu beitragen, Vorurteile abzubauen und Potentiale zu ermöglichen – man denke an das Wiener Beispiel VinziRast-mittendrin, wo Obdachlose, Asylsuchende und Studierende zusammen wohnen, und wo das Haus inzwischen zu einem auch von Außenstehenden nachgefragten Ort in der Stadt geworden ist. Architektur kann und soll Heimat schaffen. Auch in der Fremde. Damit sich jeder einzelne Mensch mit seinen inneren Bildern, Sehnsüchten und Erinnerungen in der Wirklichkeit wiederfindet.

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Es ist einfach, ein Willkommen zu bauen und damit ein Stück der alten Heimat in die neue zu transportieren. Vorschläge dazu gibt es in Hülle und Fülle – nicht zuletzt heißt der deutsche Beitrag zur diesjährigen Architekturbiennale Making Heimat. Sogar schnell und preiswert errichtete Modullösungen können ansprechend sein, wenn auf die Grundbedürfnisse ihrer Bewohner Rücksicht genommen wird und diese vertraute Elemente, wie etwa Laubengänge, Innenhöfe und geborgene Zwischenräume, wiederfinden. Ja, selbst innerhalb von Erstaufnahmeeinrichtungen wie Zeltlagern und Unterbringungshallen lassen sich das Recht auf Intimität und Rückzug, letztlich das Recht auf Menschenwürde, schon mit einfachen kreativen Konzepten erreichen: Mittels abschließbarer Einheiten mit Dach und Tür, einfacher, aber im Gebrauch angenehmer Materialien, mittels städtebaulicher Ordnung durch klar sichtbare Unterscheidung von Wegen, Höfen und Plätzen, von Gemeinschafts- und Privatraum.

Unkonventionell Neues schaffen – mit Engagement und Rückendeckung

Bund und Länder reagieren mit konstruktiven Maßnahmen auf die Erfordernisse der Stunde: Mit dem Bündnis für bezahlbares Wohnen und Bauen, mit dem Wohnungspakt Bayern oder dem Arbeitsbündnis Programm soziale Stadt. Flächen werden ausgewiesen, Vorschriften gemildert, finanzielle Mittel bereitgestellt. Das sind die richtigen Signale zur richtigen Zeit. Doch die Beispiele unserer Werkstatt zeigen: Es braucht – und es geht – noch viel mehr!

Deswegen fordern wir eine informellere Ökonomie, schnellere Entscheidungen und Offenheit, aber auch Rückendeckung von der Politik für neue, unkonventionelle Wege. Diese große Herausforderung sucht Investoren und Sponsoren, Privatpersonen, Genossenschaften und Unternehmen, die einen wirklich innovativen gesellschaftlichen Beitrag leisten möchten, der zudem im vollen Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit steht. Die gezeigten Beispiele VinziRast-mittendrin, Bellevue di Monaco und Temporäres Bauen in Bremen verdeutlichen: Auch mit kleinem Budget und preiswertem Baumaterial lässt sich Großes leisten, auch vorhandener Bestand lässt sich rasch modifizieren und wieder bewohnbar machen, auch vermeintlich ungeeignete Areale wie Gewerbegebiete, Parkhäuser oder Flächen über Parkplätzen können durch geschickte Planung und ansprechende architektonische Gestaltung aufgewertet und genutzt werden. Darüber hinaus eröffnet eine geplante Zusatznutzung, etwa durch Schaffung teilöffentlicher Räume wie Veranstaltungssälen oder Dachterrassen, einen Mehrwert zur Querfinanzierung einerseits sowie zur Begegnung verschiedener Menschen andererseits.

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Inklusion durch Teilhabe

Integration und Inklusion bedeuten mehr als Kontakt und Anpassung; Integration und schließlich Inklusion bedeuten gesellschaftliche Teilhabe und eigenes Tätigsein. Kontakt und Nähe lassen sich allerdings kaum über planerisch verordnete Gemeinschaftsräume herbeiführen. Kontakt und Nähe entstehen durch gemeinsame Interessen. In diesem Zusammenhang essentiell erscheint die Nutzung der Erdgeschossflächen. Gerade in Zeiten noch nicht erteilter oder eingeschränkter Arbeitserlaubnis ermöglicht die Erdgeschossnutzung zunächst einen Rahmen für gegenseitige Hilfsangebote wie Kinderbetreuung, Haareschneiden, gemeinsames Kochen, Änderungsschneiderei, Hilfe bei Formularen etc., der sich nach Genehmigung leicht erweitern lässt. Und der spätere Friseursalon oder das Café mit Freifläche auf die Straße hinaus schafft Raum für Begegnung, Nähe, Integration.

Bereits während der (Um-)Bauphase können wir Architektinnen und Architekten dieses Tätigsein ermöglichen. Wir können die unfreiwillig Unbeschäftigten in freiwilliger Mitarbeit in die für sie zu realisierenden sozialen Projekte einbinden. Wir können ihre Ideen und Energie wertschätzend nutzen und so eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten schaffen.

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Herausforderung als Chance

Unsere Werkstatt Flucht nach vorne hat zu Dichte geführt, die Dichte zu Nähe und diese Nähe zu ersten Ergebnissen. Die vielen Vorschläge und Ideen spiegeln vor allem unsere positive Herangehensweise an die große Aufgabenstellung wider, die wir als große Chance begreifen. Wir schaffen das? Wir machen das.

Wir Architektinnen und Architekten kennen unseren gesellschaftlichen Auftrag – und wir nehmen diesen wahr. Wir liefern mehr als den „bloßen Bau“, wir entwickeln in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen räumliche und kreative Lösungen, programmatisch, konzeptionell und baulich, für die dringenden Herausforderungen unserer Zeit.

Karlheinz Beer, BDA Landesvorsitzender