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„Flucht nach Vorne“ – Positionspapier zum Wohnungsbau für alle

19. Mai 2016

Eine Werkstatt des BDA Bayern und der Bundesstiftung Baukultur

Integration beginnt beim Wohnen. Die anhaltende Zuwanderung hat das Thema Wohnen in eine neue Dimension gebracht. Bund, Länder und Kommunen haben daher umfangreiche Fördermittel bereitgestellt um der großen Herausforderung zur Schaffung von Wohnraum zu begegnen. Dies kann durch Ertüchtigung von Bestand, Umwidmung, Restflächennutzung, Nachverdichtung und Neubau in integrierten Lagen geschehen. Städte und Gemeinden können diese Herausforderungen und Chancen zur Verbesserung ihrer Quartiere und Stadtteile nutzen, oder eben nicht. Für die Gesellschaft entscheidend ist es, die integrative Kraft guten und attraktiv gestalteten Wohnungsbaus für alle nutzbar zu machen. Die Zeit ist reif, dabei auch traditionelle Wohnformen zu überdenken und Experimente zuzulassen.
Fazit aus den diversen Veranstaltungen zum Thema Bauen für Geflüchtete ist die Notwendigkeit, bereits zu Beginn der Planungsphase in interdisziplinären Teams zu arbeiten. Insbesondere die Einbindung von Soziologen, lokalen Initiativen, Anwohnern und Nutzern ist für das Gelingen von baulicher und sozialer Integration förderlich.

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© Leonie Baumeister, Edward Beierle

1. Integration beginnt beim Wohnen

Die Lösung der Wohnungsfrage ist eine der wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen der Gegenwart. Wir brauchen Wohnungsbau für alle, in gemischten Quartieren und Siedlungen, die das Miteinander verschiedener Generationen, Milieus und Kulturen und die Integration neuer Bevölkerungsgruppen fördern sowie zum Entstehen neuer Nachbarschaften beitragen. Es ist nicht egal, welche bauliche Qualität neuer Wohnraum hat, wie er aussieht und ob er auch noch in zwanzig Jahren marktfähig ist. Es muss Wohnraum entstehen, der in lebenswerte und gemischte Strukturen eingebunden ist – in der Stadt und auf dem Land. Statt monofunktionaler Siedlungen brauchen wir dichte, gemischte Quartiere, die gesellschaftliche Integration fördern, die Arbeitsmöglichkeiten bieten und Begegnungen im öffentlichen Raum begünstigen. Intakte Quartiere zeichnen sich durch ein Miteinander von Funktionen und die Mischung unterschiedlicher Wohnformen mit verschiedenen Eigentumsverhältnissen und Trägern aus. Diese Vielfalt gilt es auch zukünftig unter der Herausforderung des Zustroms von Geflüchteten zu gewährleisten und die Entfaltungsmöglichkeit verschiedener Lebensstile durch Wohnangebote für demografisch, sozial, ethnisch und ökonomisch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen. Im Dialog mit der bestehenden Nachbarschaft entsteht ein soziales Gefüge, das in die Zukunft wirken kann.

2. Zweistufig denken: Schnelle Angebote durch gestalteten Modulbau und gute, dauerhafte Quartiere

Trotz aller Dringlichkeit bei der Erstellung von Erstunterkünften für Flüchtlinge müssen wir bauliche Schnellschüsse vermeiden. Bei anhaltendem Bedarf brauchen wir zunächst qualifizierte Provisorien, die auch auf der städtebaulichen Ebene durch die geschickte Anordnung oder Aufteilung von vorgefertigten Modulen Qualitäten schaffen – und so Integration erleichtern. Parallel dazu muss zügig dauerhafter Wohnungsbau entstehen, der unabhängig von einer Nutzergruppe vielerorts benötigt wird. Der Bund stellt für sozialen Wohnungsbau jährlich 500 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung. Da dieser unsere Städte für lange Zeit prägen wird, darf es keine Abstriche an baukulturellen Qualitäten geben. Das „dauerhafte Provisorium“ und der alles könnende Hybridbau können nur im Ausnahmefall gelingen und auf Akzeptanz stoßen. Sie werden und müssen Ausnahmen bleiben. Unabhängig von der aktuellen Diskussion über die Notwendigkeit zusätzlichen Wohnraums sollten wir nicht vergessen, dass – trotz im besten Fall stagnierender Bevölkerungszahlen – ein dauerndes Ansteigen unserer Wohnfläche pro Kopf und damit unserer Ansprüche gerade im globalen Kontext bedenkenswert erscheinen. Auch aus diesem Grunde liegt ein großes Potential in der Wiederverwertung und Aktivierung unserer Bestandsgebäude im Sinne von „Reduce, Reuse, Recycle“.

3. Der öffentliche Raum entscheidet

Der öffentliche Raum wird für die Integration aller gesellschaftlichen Schichten entscheidend sein. In gemischten Quartieren sollten neben Angeboten für Wohnen, Arbeiten, Handel und Selbstversorgung auch soziale Infrastrukturen vorhanden sein: Gemeinschaftsflächen und Einrichtungen für Bildung – Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten aber auch Erwachsenenbildung, Volkshochschulen oder Sprachzentren. Im öffentlichen Raum werden Orte der Zusammenkunft, für Freizeit, Erholung, Sport sowie Kinderspielplätze benötigt oder müssen neu geschaffen werden. Ein funktionierender öffentlicher Nahverkehr und eine umfängliche Erschließung sind weitere Schlüsselaufgaben für Kommunen und Planer.

© Leonie Baumeister, Edward Beierle

4. Chancen für Stadt und Land

Eine große Chance für Ankommende und Einheimische gleichermaßen kann die Nutzung des Potentials in Mittel- und Kleinstädten sowie in ländlichen Räumen bieten. Die Ballungsräume der großen Städte stoßen teilweise an Belastungsgrenzen. In zentralen Lagen sind bezahlbare Wohnungen in gemischten Quartieren bereits stark umkämpft, so dass erschwinglicher Wohnraum für alle Bevölkerungsgruppen auch ungeachtet des aktuellen Zustroms von Flüchtlingen schnellstmöglich geschaffen werden muss. In ländlichen Räumen hingegen, aber auch in vielen kleinen und mittleren Städten kann unter Berücksichtigung städtebaulicher Anforderungen durch die Nutzung und Reaktivierung von Bestandsbauten und durch ergänzenden Siedlungsbau für Flüchtlingsfamilien und die bestehende Bevölkerung ein großer Mehrwert entstehen. Durch die Entwicklung lokaler Arbeitsmöglichkeiten können zudem notwendige Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Integration geschaffen werden. Die zusätzlich eingesetzten Finanzmittel müssen insbesondere in Städten mit städtebaulichen Missständen Synergien zu einer positiven Stadtentwicklung freisetzen. „Wohnen für alle“ ist somit auch eine raumordnerische und regionalplanerische Frage. Es ist keine Neuigkeit, dass wir in Deutschland nach wie vor „schrumpfende“ Regionen mit enormem Leerstand und boomende Metropolen mit Wohnraummangel haben. Gefragt sind hier kreative Konzepte, die „leere“ Regionen zu Anziehungspunkten und interessanten Alternativen zur Metropole machen.

5. Kooperieren

Die notwendige Konzentration bei zeitlich engagierten Zielen darf nicht zulasten der Qualität gehen. Engpass ist nicht die Planungskompetenz oder -kapazität von Stadtplanern, Architekten, Landschaftsarchitekten und Ingenieuren oder der Bauindustrie und dem Bauhandwerk. Die große gesamtgesellschaftliche Aufgabe verlangt nicht nur ein Zusammenarbeiten interdisziplinärer Teams sondern ebenso eine schnelle und unkomplizierte Kommunikation seitens der Behörden. Auch sind Transparenz im Austausch zwischen den beteiligten Ämtern und kurze Wege zwischen den Verantwortlichen der kreativen Grundstücksentwicklung förderlich. Auf Seiten der öffentlichen Hand sollten vermehrt zur aktivierenden Unterstützung und Problemlösung bei Wohnungsbauvorhaben integrierte Projektstrukturen geschaffen werden. Auch eine Einbindung und Mitwirkung der Betroffenen und Interessierten im Planungsprozess ist erforderlich und im Ergebnis häufig beschleunigend. Pilotprojekte der öffentlichen Hand können beispielhaft wirken und den Übergang vom geregelten Plan zu einem Prozess darstellen. Die bewährten Instrumente zur Qualitätssicherung beim Planen wie z.B. Wettbewerbe und Stadtentwicklungskonzepte sind vermehrt anzuwenden. Baukultur ist eben auch Planungskultur.