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Welche Standards brauchen wir im Wohnen? Bericht aus Nürnberg

27. April 2017

Foto: Anna Seibel
Foto: Anna Seibel

„Der Wohnungsbau ist bedeutsam für die positive Ausgestaltung des Lebens, doch die Qualität taucht in der Diskussion selten bis nie auf!“ Das sagt die stellvertretende Leiterin des Neuen Museums Nürnberg, Eva Martin, in ihrer Begrüßung, und die anwesenden Architekten hören es gern.

Die Ausstellung „Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen“ ist nach Berlin und Kassel mit Nürnberg an ihrer dritten Station angelangt, und am 26. April findet hier eine gut besuchte Diskussion unter dem Titel „Welche Standards brauchen wir im Wohnen?” statt. Die Ausstellung ist in Volker Staabs großartigem Museumsneubau im Foyer untergebracht worden, wobei mit diesem Begriff nicht die Eingangshalle bezeichnet wird, sondern ein längsrechteckiger und nach oben offener Bereich im Untergeschoss. Hier hat die knallrote Installation viel mehr Platz, und sie nutzt diese großzügige Möglichkeit trefflich. Wer möchte, kann sich erst einen Überblick aus der Vogelschau verschaffen, bevor er hinabsteigt und sich in die Exponate vertieft. „Die Ausstellung wird sehr gut angenommen, wir sehen, dass sich die Leute lange darin aufhalten und sich in die Begleitmedien vertiefen“, heißt es seitens des Museums.

Ein tragender Gedanke der Ausstellung ist ja, sich auch in der Region zur Diskussion zu stellen. Grund genug für Kurator Matthias Böttger und drei der in der Ausstellung vertretenen Architekten, nach Nürnberg zu kommen und das Gespräch mit örtlichen Akteuren zu suchen.

Foto: Anna Seibel
Foto: Anna Seibel
Matthew Griffin, Rainer Hofmann, Tim Heide

Zunächst präzisieren die drei Architekten ihre Thesen anhand eigener Projekte. Matthew Griffin von Deadline Architects stellt das partizipativ konzipierte Wohn- und Gewerbeprojekt FRIZZ23 an der Friedrichstraße in Berlin-Kreuzberg vor. „Erst das Konzept, dann das Design“ lautet das Motto. Sechs Jahre wird daran schon geplant, der Rohbau schießt gegenwärtig innerhalb von sechs Wochen in die Höhe. „Konzeptvergabe in Erbpacht“, „Workshops statt Spekulation“, „modellhaftes dialogisches Entwurfsverfahren“ und „langfristige Perspektiven“ lauten hier die Stichworte. Aber auch: „Ökonomisch lohnt sich das für uns Architekten nicht“, wie Griffin zugeben muss.

Tim Heide von Heide Beckerath Architekten zitiert erst Hannes Meyer, Ernst Neufert und Oswald Mathias Ungers, bevor er das Baugruppen-Wohnprojekt Spiegelfabrik im benachbarten Fürth vorstellt. Mit einem modularen und wirtschaftlichen Konstruktionsprinzip erzeugt er „Dichte als Möglichkeit“ mit einer GFZ von 3,4: „Eine Dichte wie in der alten Stadt.“

Rainer Hofmann von bogevischs buero schließlich zeigt das genossenschaftliche Wohnprojekt „wagnisART“ auf dem Gelände der Münchener Funkkaserne. Die Stadt München hat das Grundstück im Rahmen der hier üblichen Konzeptvergabe verkauft: „Gemeinwohl statt Eigeninteresse“. In einem interaktiven Prozess mit Workshops haben die künftigen Bewohner mit den Architekten den Entwurf entwickelt. Die Erfahrung bei partizipativen Projekten: „Die wollen immer alles!“ So wurden Laubengänge gebaut, obwohl diese für die Erschließung am Ende gar nicht notwendig waren. Sie verbinden nun als eine Art öffentlich zugängliche Luftbrückenlandschaft die fünf unregelmäßig geformten Baukörper.

Foto: Anna Seibel
Foto: Anna Seibel
Annemarie Bosch, Daniel Ulrich, Reinhard Zingler, Matthias Böttger

Nürnbergs Baureferent Daniel Ulrich weiß als Vollblut-Politiker die vorgestellte Projekte geschmeidig zu loben: „Das sind spannende Beiträge, wichtige Fingerzeige, aber sie sind auch sehr speziell!“ Dann verheddert er sich in der Analyse der Zu- und Abwanderung: Mal fehlen die ins Umland migrierten jungen Familien der bürgerlichen Stadtgesellschaft, mal sind Landbewohner pauschal tumbe Trump-Wähler. Die Neubürger in der inneren Stadt sieht er als EU-Binnenzuwanderer mit konservativen Familienstrukturen, die für Baugruppen- und Genossenschaftsmodelle nicht zu erreichen seien.

Auch der angenehm differenziert auftretende Vorstand des kirchlichen Wohnungsunternehmens Joseph-Stiftung, Reinhard Zingler, attestiert Nutzern mit Migrationshintergrund „festere Familienstrukturen“ als bei nativen Deutschen, aber er erkennt an, „dass wir neutralere Grundrisse für mehr Lebensentwürfe brauchen“. Auch seien angesichts der demographischen Entwicklung generationenübergreifende Wohnungskonzepte gefragt.

Die anschließende Diskussion konzentriert sich schnell auf die Liegenschafts- und Bodenpolitik. Alle sind sich einig, dass eine Konzeptvergabe kommunaler Grundstücke einem meistbietenden Verkauf vorzuziehen sei, und zwar möglichst in Erbbaurecht, um keinen Ansatz für Bodenspekulation zu bieten. Auch zeichne sich eine Renaissance des Genossenschaftsgedankens ab, wie Annemarie Bosch, stellvertretende Vorsitzende des BDA Bayern, feststellt. Baugruppen als Kapitalgesellschaften wachse individuelles Eigentum an öffentlich gefördertem Grund zu: „Es kann nicht Aufgabe der Stadt sein, Reiche reicher zu machen“, sagt der parteilose Kommunalpolitiker Ulrich. Die Gefahr bestehe zumindest in Berlin nicht mehr, wirft Matthias Böttger ein: „Wegen der enorm gestiegenen Bodenpreise ist das Baugruppenmodell in Berlin praktisch tot!“

Genossenschaften sichern die Nutzer vor den Unsicherheiten des Wohnungsmarktes. Rainer Hofmann weiß: Das Gefühl des Einzelnen, „Ich bin safe“, sei ein gewichtiger Faktor, sich für ein Genossenschaftsmodell zu entscheiden.

Ja, die in der Ausstellung verhandelten Thesen, Prozesse und Modelle sind „speziell“, sonst wären sie ja auch nicht ausstellungswürdig. Die zweieinhalb Stunden Diskussion in Nürnberg beweisen, dass die „Zehn Thesen zum Wohnen“ tatsächlich zum Nach- und Weiterdenken anregen. Die nächste Station der Ausstellung ist ab 19. Mai in Köln.

Benedikt Hotze

„Neue Standards” in Nürnberg

Foto: Anna Seibel
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