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Nachruf

4. August 2017

bogevischs buero
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Prof. Dipl.-Ing. Architekt BDA Werner Wirsing

Zum Tod von Werner Wirsing

Es war still um ihn geworden in den letzten seiner vielen und schöpferischen Lebensjahre. Zurückhaltend war er sein Leben lang, das Laute war ihm immer fremd. Aber Besonnenheit paarte sich mit subtilem Humor. Die Eigenheit von Werner Wirsing ging fraglos aus der Begegnung mit ihm selbst hervor, zugleich aber auch aus der Verschiedenheit der Orte dieser Begegnungen, von denen immer nur partielle Ansichten verblieben, Augenblickseindrücke, die sich vielfältig im Gedächtnis speicherten und dann in der Erinnerung buchstäblich wieder zusammenzusetzen waren. Oder in der Aneinanderreihung von komprimierten Momentaufnahmen, die ein Bild seiner Person rekonstruieren ließen. So verstanden bleibt er in vielen Facetten als Erinnerung mitten unter uns, er Werner Wirsing, der immer alles auf den Punkt zu bringen suchte: Sein Denken und sein Tun, in der Miniatur ebenso, wie in allem Großen, das seinem Denken und Tun entsprang.

Die Sprache ist wie die Architektur, man muss sie beherrschen, sagte Werner Wirsing einmal. Und darum ging es ihm, wohl wissend, dass diese Kraft für beides galt und für ihn nur über das Einfache, über die Urkraft des Originären erreichbar war. Dass das Einfache immer auch nach Leichtigkeit verlangt, das war ihm bewusst. So war es ein ihm immanentes Ringen, diese so erwünschte Leichtigkeit prägend für sein Tun zu erschließen, so das Einfache als Ausdruck der Reduktion auf die Kraft des Wesentlichen zu destillieren.

Vielleicht hat sich das schon in seiner Kindheit im unterfränkischen Gemünden in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg verinnerlicht, als er von seinem Lieblingsplatz unter dem Schreibtisch seines Vaters dessen Sprache richterlicher Präzision belauschte: dem Wesen der Dinge auf die Spur kommen. Weitergetragen hat sich dies gewiss mit dem Umzug nach München, von wo ihn ein Schulausflug mit dem Radl zur Weißenhofsiedlung nach Stuttgart führte, dorthin, wo er erstmals von der Kraft des Einfachen in der architektonischen Moderne erfuhr. Und nicht zuletzt war es dann die notwendige Verknappung der Sprache, die von ihm im Zweiten Weltkrieg im Kriegseinsatz als Funker verlangt war. Dieses Denken spiegelt sich weiter auch in der für ihn typischen Reduktion seiner handschriftlichen Texte, die wie kaligraphisch-ornamental anmutende Schriftzeichenfolgen nicht nur auf Großbuchstaben verzichteten, sondern in der ihm eigenen Bescheidenheit sich immer in Kürze fassten.

Nach dem unsäglichen Krieg studierte er, wie konnte es auch anders sein, Architektur in München. In der allgemeinen Notlage entwickelte er schon bei seinen allerersten Bauten kurz nach dem Studium ein ausgeprägtes Gefühl für soziale Zusammenhänge und für „arme“ Materialien. Bald gründete er mit Kollegen das Baubüro des Bayerischen Jugendsozialwerks, das er bis 1954 leitete. Sein Studentenwohnheim am Maßmannplatz in München (1948 bis 1951) mit seinen rhythmisierten Zeilenbauten und dem elegant aufgeständerten Verbindungstrakt gilt als Musterbeispiel jener karg-modernen Architektur der Nachkriegszeit. Ab 1955 hatte Wirsing dann sein eigenes Büro. Schlichte Elementarformen wurden entwickelt, deren Basis eine Verknüpfung industrialisierter Bautechniken mit Vorstellungen sozialer Gemeinschaftlichkeit ist. Sie prägten fortan seine Projekte. Immer waren es langgestreckte einfache Pavillons, die sich aller formalen Auffälligkeiten enthielten und bald schon in der Natur aufgingen. Als größtes Kompliment galt ihm die Feststellung, dass diese unaufdringlichen Wohnhüllen oder auch ein größeres Haus wie die in den Hang geschmiegte Bildungsstätte in Remscheid in ihrer formalen Reduktion und in ihrer Vorliebe für einfache Materialien die kargen Stilformen der späten neunziger Jahre auf verblüffende Weise vorwegnehmen.

Es ist bezeichnend für sein Werk, dass von den Großprojekten, die im Werkverzeichnis zu finden sind, am Ende keines verwirklicht wurde. Als 1966 München den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam und das von Werner Wirsing und Günther Eckert entworfene Olympische Dorf überarbeitet wurde, bekam er die Flachbauten zugeteilt. Die Wohn-, Schlaf- und Studierwürfel sind als eine Art Gegenstück zum Gemeinschaftsprojekt am Maßmannplatz konzipiert. Die Gesamtanlage, bei der sich die einzelnen Würfel zu Straßen, Plätzen und einem kleinen Ort zusammenschließen, ist ein Musterbeispiel für das, was Le Corbusier einmal als die „hohe Kunst des Zusammenspiels von einsam und gemeinsam“ bezeichnete. Er wäre heute sicher noch froh darüber, dass seine am Fuß der Hochhäuser locker gefügten, heiter verspielten, als Studentenhäuser weitergedachten Bauten nach der Erneuerung zusammen mit bogevischs buero so vital und so begehrt sind wie am ersten Tag. Zwar weltweit bewundert, aber nirgendwo übertroffen hat er dort eindrucksvoll bewiesen, dass sich mit einem Minimum an materiellem und räumlichem Aufwand architektonische und stadträumliche Strukturen schaffen lassen, die den Bewohnern Raum zur Phantasie lassen.

Realisiert hat er natürlich eine Reihe weiterer Bauten, Wohnhäuser für Studenten in München, Weihenstephan und Regensburg, aber auch Bildungsstätten, wie das Studienzentrum für evangelische Jugendarbeit Josefstal, ein Pfarrzentrum in Nürnberg, Seniorenwohnungen, Industrie- und Ausstellungsbauten und viele Einfamilienhäuser.

Häuser zu bauen bedeutete für Werner Wirsing immer die Übernahme von Verantwortung. Vielleicht drängte es ihn deshalb, sich gestalterisch mit, wie er es nannte, „nutzlosen Spielereien“ zu befassen. Oder – wir erinnern uns – erspürte er etwa in diesem persönlichen Freiraum jene Leichtigkeit, die ihm die Einfachheit erschloss. So wurden Hühner-, Enten- und Gänseeier zum Zeichengrund, in welchen Form und Schale in wundervoller Weise verschmelzen, wurden zum Jahreswechsel Faltwerke, Puzzles oder kryptische Textgefüge zum Rätseln erfunden oder für die Weihnachtszeit tektonische Christbäume erdacht.

Selbstverständlich war sein Wissen auch in der Lehre gefragt. So wurde er 1967 als Dozent an die Hochschule für Gestaltung nach Ulm berufen, wo er bis 1970 lehrte. Er folgte von 1974 bis 1978 dem Ruf als Lehrbeauftragter an die Akademie der Bildenden Künste München und unterrichtete ab 1978 mehr als zwanzig Jahre an der Fachhochschule München, der heutigen Hochschule München, wo er 1991 zum Honorarprofessor ernannt wurde.

Seiner Leidenschaft als Architekt war auch ein breites Engagement in ehrenamtlichen Tätigkeiten geschuldet. Sei es als Landesvorsitzender des BDA Bayern, als Vorsitzender im Werkbund Bayern, als Mitglied der Vertreterversammlung der Bayerischen Architektenkammer, als Vorstandsmitglied, als Vorsitzender des Landeswettbewerbsausschusses oder des Ausschusses für Berufsordnung, als Vorsitzender des Ausschusses für visuelle Gestaltung der Olympischen Spiele 1972, als Mitglied der Stadtgestaltungskommission München oder als Direktor der Abteilung Baukunst der Akademie der Künste in Berlin, um nur einige zu nennen. Auch seine Jahrzehnte anhaltende kritische und ermunternde Mitwirkung in der Redaktion der BDA-Informationen kann hier nicht unerwähnt bleiben.

Dass vor diesem Hintergrund und seinem unermüdlichen Engagement für Baukunst und Baukultur Auszeichnungen nicht ausblieben, versteht sich von selbst. So waren es 1958 der Förderpreis für Architektur der Landeshauptstadt München, 1971 die Heinrich-Tessenow-Medaille der Fritz-Schumacher-Stiftung, 1975 den BDA-Preis des Landes Bayern, 1984 die Ernennung zum Ehrenmitglied des BDA Bayern und nicht zuletzt 2007 den Bayerischen Architekturpreis für sein vielfältiges Lebenswerk.

„Von Werner Wirsing reden“, so sagte Winfried Nerdinger einmal, „heißt vom sozialen und gesellschaftlichen Engagement reden und damit von etwas, das Grund und Rechtfertigung moderner Architektur in ihrer heroischen Entstehungszeit war, einer Zeit, als die Moderne keine formale Angelegenheit, sondern ein Anliegen war, ein moralisches, gesellschaftliches Anliegen …“

Es wäre ein Leichtes ihm zum Schluss noch viele Attribute zuzuordnen, aber es wären lange nicht genug, um alle seine Facetten zu beschreiben. So können wir den Menschen Werner Wirsing in die Erinnerung meißeln, dessen Prädikat die Einfachheit war und weiter ist, die sich immer erst am Ende zeigt, als Ziel zunächst, als Vollendung dann. So heißt es nun, ihm, den Suchenden, den Anreger, den immer Geradlinigen, den Unermüdlichen, den Geschätzten noch ein abschließendes Wort als Vermächtnis zuzuschreiben, indem er den Sinn des Lebens ausschließlich in den Leidenschaften und nirgends sonst sah.

Fortan hüllt er sich in Schweigen, er einfach ww – kleingeschrieben. Werner Wirsing wurde 98 Jahre alt.

Erwien Wachter